Win Schumacher journalist, fotograf, weltreisender alles wahre leben ist begegnung
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Neuirland

Die zu den Haien rufen

Auf der Südseeinsel Neuirland lebt ein geheimnisvoller Totenkult fort

„Wir haben keine Angst vor ihnen“, sagt der alte Mann mit dem silbern glänzenden Kräuselhaar. „Es sind die Geister der Ahnen, die in den Haien wohnen. Wir rufen zu ihnen. Wir flüstern wie in einem Gebet. Es sind geheime Worte. Nur die Männer von Kontu und Tembin kennen sie.“ Mit einem glühenden Span zündet sich Daniel Soka seine Pfeife an. Eine Tabakwolke geistert durch das Dämmerlicht der Hütte. Der Haiflüsterer fixiert die Fremden mit nachtschwarzen Augen. Eine sonderbar weiche Stimme erzählt in langsamem, gebrochenem Englisch von den Männern, die hinaus auf das Meer fahren, um den Ahnen zu begegnen. Das Flüstern der geheimen Worte lockt die Haie neben die Pirogen. Nähert sich der Haiflüsterer dem Geist in Ehrfurcht, erhält er zum Lohn das Tier als Beute.

Wenn der Dorfvorsteher von den Haien und den Geistern spricht, füllt manchmal minutenlang Stille den Raum. Dann gleitet ein kalter Schauer über die feuchte Haut. Verworrene Gedanken flimmern hinter der Stirn. Und dieser leise Zweifel, ob denn die Regeln der Welt, aus der wir kommen, überhaupt gültig sind, überall auf der Erde, auch auf den Inseln des Bismarck-Archipels, jenseits von Neuguinea, auch hier an der Westküste von Neuirland, im Dorf der Haiflüsterer, in der Bucht von Tembin.

Für den Dorfvorsteher mit den Geisteraugen sind die Geschichten der Väter Teil seiner Welt. Einer Welt, in der Mythos und Realität ein und dasselbe sind. Es ist eine schwüle Tropennacht. Das Petroleumlicht flackert. Daniel Soka raucht und trinkt aus einer Plastiktasse gelösten Nescafé. Auf das Wellblechdach über uns prasselt ein nicht enden wollender Regen, der das Rauschen des Meeres übertönt. Irgendwann beginnt auch für den Europäer des 21. Jahrhunderts Geschichte und Wirklichkeit zu verschwimmen, ein Fluss aus unscharfen Bildern und traumfarbenen Gestalten. Sein leises Plätschern gleicht der Stimme eines Alten mit einer Pfeife im Mund. […]