Am Orange Shirt Day gedenken die Kanadier den Opfern der berüchtigten Umerziehungsinternate für indigene Kinder. Kanadas First Nations blicken an dem Tag aber auch hoffnungsvoll in die Zukunft.
„Meine Mutter hat bereits geahnt, dass die Transporter auch für uns kommen würden“, sagt Jamena James Allen und blickt dann lange schweigend über den stillen Kluane-See auf das majestätische Bergpanorama der Eliaskette. „Sie hatte bereits gesehen, wie sie die Kinder der anderen mitgenommen haben.“ Der 75-jährige verbrachte seine Kindheit nicht weit von hier, wo die Gipfel an der Grenze zu Alaska höher sind als irgendwo sonst in Kanada. Mit fast 6000 Metern ist der Mount Logan nur einer von unzähligen Gipfeln, die aus dem größten Eisfeld außerhalb der Polregionen ragen. „Meine Mutter ist hier noch fast ohne Kontakt nach außen aufgewachsen“, erzählt der Tutchone, „meine Großeltern zogen noch zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren umher, wie schon vor Jahrhunderten.“
Die Welt aus Allens frühen Kindheitserinnerungen gibt es nicht mehr. In Händen hält der alte Mann mit dem dichten, silbern glänzenden Haar ein Malbuch, das sein Volk für die Kulturvermittlung an die nachgeborene Generation herausgebracht hat. Auf einer der Seiten zeigt es einen Lastwagen, der auf seiner Ladefläche acht Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu einem Steinhaus bringt. Davor wartet eine Nonne mit schwarzem Schleier auf sie. „Als ich sieben war, haben sie mich, meinen Bruder und meine Schwester abgeholt“, erzählt Allen, „meine Eltern wurden vorab nicht informiert.“ Ziel des Transporters war die von mehr als 200 Kilometer entfernte Choutla Residential School in Carcross ganz im Süden des Yukon an der Grenze zu British Columbia. Sie wurde von der anglikanischen Kirche geführt. Für Allens Eltern waren ihre Kinder damit in eine unerreichbare Ferne verschleppt.
Noch bis in die 90er Jahre wurden in Kanada Kinder aus indigenen Familien in Umerziehungsinternate gebracht. Mehr als 150.000 Kinder der First Nations, Métis und Inuit wurden in über 130 Residential Schools umerzogen, . „Uns wurden am ersten Tag die Haare geschoren und wir wurden in eine Schuluniform gesteckt. Sie hatten Angst, dass wir Läuse ins Internat bringen“, erinnert sich Allen. „In der Nacht hörte man die Kinder weinen und nach ihren Müttern rufen.“ Er hält inne. „Sich in unseren Muttersprachen zu unterhalten und unsere Lieder zu singen, war verboten. Wer sich nicht daran gehalten hat, wurde bestraft.“ Die Internatsschüler sollten einzig Englisch oder Französisch sprechen, ihre kulturellen und spirituellen Wurzeln sollten durchtrennt werden. „Sie wollten den Indianer in uns austreiben“, sagt Allen. Die Internate wurden größtenteils von katholischen und protestantischen Kirchen betriebenen und von der kanadischen Regierung verwaltet. Viele Kinder, auch Allen, sahen ihre Eltern nur für wenige Wochen einmal im Jahr wieder. „Ich erinnere mich, wie glücklich ich war, nach Hause zu kommen, wieder draußen in der Natur zu sein.“ Erste Vorläufer der Residential Schools entstanden bereits im 17. Jahrhundert. Ab dem 19. Jahrhundert wurden sie systematisch für die indigene Bevölkerung eingerichtet. Die letzte wurde erst 1997 geschlossen. […]