Win Schumacher journalist, fotograf, weltreisender alles wahre leben ist begegnung
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Kurische Nehrung

Alles auf Sand

Dünen, Kiefernwälder, Vogelschwärme: Die Kurische Nehrung zieht seit jeher Naturliebhaber und Nostalgiker an.

 

Eigentlich wollte ich gar kein Fischer werden“, sagt der alte Mann mit einem Lächeln und blickt über das stille Wasser des Kurischen Haffs. Alfonsas Kauneckis kramt in seinen Erinnerungen. „Es war eine der wenigen Möglichkeiten, um nach dem Militärdienst nicht in die Kolchosen geschickt zu werden.“ Mit seiner unvorhersehbaren Berufung gehadert hat der Litauer jedoch nie. „Da draußen bist du frei.“ Der Urgroßvater ist mit 83 Jahren der Älteste auf der Kurischen Nehrung, der noch heute bei Sonnenaufgang zum Fischfang hinausfährt – fast wie damals, als er in Juodkrantė, dem ehemaligen Schwarzort, zum ersten Mal in den Kutter stieg. Das war vor mehr als 60 Jahren.

Die Welt war eine andere, als Kauneckis 1938 auf der anderen Seite des Haffs der Memel geboren wurde. Damals lebten hier Litauer, Deutsche und Kuren zusammen und in den Fischerdörfern bestimmte ein Gemisch ihrer Sprachen den Alltag. „Meine Eltern konnten Deutsch. Wir lebten nur drei Kilometer von der Grenze zum Memelland. Ich erinnere mich auch an einen alten Mann, der noch Kurisch sprach“, erzählt Kauneckis. Die letzten Nehrungskuren, die einst in der Region lebten, flohen am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen vor der vorrückenden Roten Armee. Mit ihnen verschwand die Sprache der Fischer und Seeleute, die über Jahrhunderte hier zuhause war. Der letzte Muttersprachler starb wohl 2007 in Heidelberg. Der ehemalige Postkutscher Richard Pietsch wurde im Grab seiner Familie im Fischerdorf Nidden beigesetzt.

„Ich erinnere mich gut an das Kriegsende“, sagt Kauneckis, „an das zerstörte Klaipėda. Auch an die russischen Soldaten. Sie hatten amerikanische Lachskonserven.“ Die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird von vielen Nehrung-Touristen noch immer als Epoche der Künstler und Literaten verklärt. Spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten war sie vorbei. Thomas Mann, der in Nidden ein Sommerhaus hatte und hier an seiner Roman-Tetralogie „Josef und seine Brüder“ schrieb, floh 1933 von München nach Sanary-sur-Mer und kehrte nie mehr auf die Kurische Nehrung zurück. Die berühmte Künstlerkolonie von Nidden, die einst große Maler wie Lovis Corinth, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff angezogen hatte, verlor immer mehr an Bedeutung. Ihre Werke wurden als „entartet“ gebrandmarkt. Einige Bilder, die die Kriegsjahre im Gasthof des einstigen Mäzens Hermann Blode überlebten, fielen 1945 den Sowjettruppen zum Opfer.

Derzeit war noch lange nicht absehbar, dass aus dem Schmiedsohn Alfonsas Kauneckis einmal ein Fischer werden würde. Als er später wie unzählige andere Litauer nach Sibirien verschleppt werden sollte, entkam er und fand über Umwege schließlich auf der Nehrung Zuflucht. […]