Win Schumacher journalist, fotograf, weltreisender alles wahre leben ist begegnung
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Soomaa

Die Stimme des Waldes

Estland lockt mit endlosen Mooren und Wäldern. Doch nicht alles ist so unberührt wie es auf den ersten Blick scheint.

Lassen wir den Wald für sich selbst sprechen. Kaum irgendwo sonst kann man ihm besser zuhören, als im Kanu auf dem Flüsschen Raudna an einem Sommerabend wie diesem. Leise glucksen die Paddelschläge zum Flöten der Amseln. Der Sprosser probt sein zauberhaftes Nachtigallenlied. Spechte trommeln. Irgendwo ruft ein Kauz. Mücken surren über dem Wasser, das den hellen Himmel spiegelt. Der Wald von Soomaa spricht viele Sprachen. Und aus den Waldwiesen steigt der weiße Nebel so wunderbar, als habe Matthias Claudius die Strophen seines Abendlieds auf eben jenem Fluss im estnischen Nirgendwo ersonnen.

Wer mit Indrek Vainu schweigend und lauschend durch die Wildnis des Soomaa-Nationalparks paddelt, verfällt schnell der Magie der baltischen Waldeinsamkeit. Der Este verliert nicht viele Worte und überlässt es seiner Wahlheimat allein, Besucher in ihren Bann zu ziehen. Der eben angereiste Tourist mag in Pandemiezeiten von fernen Dschungelflüssen geträumt haben. Jetzt bringt ihn das Kanu in eine Welt, die ihn daran erinnert, dass auch Europa einmal ein Kontinent wilder Schönheit war, wenn auch schon lange nicht mehr von solcher Unberührtheit wie hier, durch die noch immer Bären, Wölfe und Luchse streifen.

Vor 15 Jahren hat der Wald von Soomaa zum ersten Mal zu Indrek Vainu gesprochen. „Es war auf einer Kanutour, als wir zum Geburtstag eines Freundes durch Soomaa paddelten“, erzählt der 40-jährige, „ich hatte mir die Kleider abgestreift und war ins Wasser gesprungen. Da habe ich diese Stimme gehört, die sagte: Komm hierher!“ […]