Win Schumacher journalist, fotograf, weltreisender alles wahre leben ist begegnung
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Kathmandu

Jenseits der Achttausender

Nepal überragt nicht nur mit dem Mount Everest die Welt. Auch die Kultur im Schatten des Himalaya hält einige Höhepunkte und Rekorde bereit

Die Göttin lässt sich Zeit. Im Hof ihres Palastes drängen sich Gläubige und Touristen. Alle starren sie hinauf zu einem mit üppigen Holzschnitzereien gerahmten Fenster. Da oben soll sie erscheinen. Die Menschenmenge wartet gespannt auf den Auftritt der Kumari von Kathmandu. So nennen die Nepaler Trishna Shakya, die lebende Kindsgöttin, Inkarnation der Taleju. 2017 wurde sie als Dreijährige von Priestern und Astrologen zu ihrem geweihten Schicksal bestimmt und lebt seither in einem Tempel-Palast am Durbar-Platz inmitten der nepalesischen Hauptstadt. Nach einer jahrhundertealten Tradition wird ihr winziger Körper so lange Heimstatt des Göttlichen sein, bis mit dem Einsatz ihrer Periode ein anderes Mädchen an ihre Stelle tritt.

Nur zu hohen Feiertagen darf die Kumari den Palast verlassen und wird dann auf einer goldenen Sänfte durch die Straßen Kathmandus getragen, wo die Menschen auf den Segen der Göttin in makelloser Mädchengestalt warten.

Einen Moment lang kehrt eine andächtige Stille ein, als das Mädchen tatsächlich ans Fenster tritt, nachdem den Menschen im Hof befohlen wurde, ihre Kameras und Mobiltelefone wegzustecken. Stumm und mit dunklen, traurigen Augen blickt die Göttin auf die Verehrer und Schaulustigen.

Der gerade angereiste Fremde mag eben noch über religiösen Wahn und Kindesmissbrauch nachgesonnen haben; über korrupte Könige und maoistische Premierminister, die dem Mädchen die heiligen Füße küssten; über die Antitraditionalisten, die den Kult um die Kumari am liebsten für immer verbieten würden. In diesem Moment aber, als das kleine Mädchen am Fenster erscheint, verstummt für einen Augenblick alle Aufgeklärtheit und aller Argwohn und eine stille Magie erfüllt den Raum. Bis der Lärm der Straße vor den Toren des Palastes die göttliche Blendung verweht. […]