Win Schumacher journalist, fotograf, weltreisender alles wahre leben ist begegnung
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Jerusalem

Im Labyrinth der Lebensläufe

Im Gespräch mit Jerusalemern erleben Touristen die Heilige Stadt als Sammelpunkt verwinkelter Biografien

Einen Schlüssel zum Frieden hat er nicht. Wie könnte auch irgendjemand in dieser Stadt behaupten, er habe einen? Der Schlüssel von Wajeeh Nuseibeh wiegt weit weniger als die ewigen großen Fragen, die Jerusalem bewegen. Doch auch Nuseibehs Schlüssel hat einige Jahrhunderte bewegte Geschichte durchlebt – unzählige Herrscherwechsel, Aufstände, Massaker, Kriege, Neuanfänge.  Etwas unterscheidet Nuseibehs Schlüssel von vielen anderen, über die man hier spricht und streitet bis aufs Blut – es ist ein Schlüssel zum Anfassen. Wajeeh Nuseibehs Schlüssel öffnet das Tor zur Grabeskirche, dem Allerheiligsten der Christenheit.

Gerade hat der kleine Mann es besonders eilig. Er ist auf dem Weg zum Mittagsgebet in einer Altstadtmoschee. Sonst sitzt er oft stundenlang in einer Seelenruhe neben der heiligen Pforte und sieht zu, wie die Pilger in seine Kirche drängen. Ein Moslem trägt den Schlüssel der Grabeskirche in der Hand. Den Zugang zu dem Ort an dem Christus  der Tradition nach gestorben und auferstanden ist, verwaltet ein Mann, der weder an den Kreuzestod noch an die Auferstehung Jesu glaubt.

Sechs Konfessionen haben sich die Kirche im Zentrum der Jerusalemer Altstadt bis auf den letzten Zentimeter aufgeteilt. Jede hat in einer anderen Nische ihr Heiligtum. Nicht selten kommt es unter den Mönchen zu Streitigkeiten bis hin zu Handgreiflichkeiten um die streng geregelte Gebetsordnung an Grab und Kreuzigungsstelle. Von stiller Andacht ist hier wenig zu spüren. In den Warteschlangen vor den heiligen Stätten drängen sich die Pilger. Für wenige Sekunden knien sie unter einem goldumrankten Altar nieder, um den Ort zu küssen oder wenigstens den Felsen zu berühren, über dem der Erlöser starb.

„Niemand hat das Recht, die Kirche zu öffnen, außer ich und meine Familie“, sagt der 57-jährige Nuseibeh. Seit Jahrhunderten ist seine  Familie gleichzeitig Wärter und Hausmeister der Kirche. Die Tradition, dass eine muslimische Familie den Zugang zu der Kirche regelt, lässt sich bis ins Jahr 638 zurückverfolgen. Zunächst wurden die Nuseibehs von den muslimischen Eroberern als Wächter eingesetzt. Später war ihre Funktion vor allem die des neutralen Schlichters zwischen den verschiedenen Kirchen, die sich alle als ihre wahren Erben sehen.

Wenn Nuseibeh unterwegs durch die Gassen des christlichen Viertels ist, grüßt man ihn von allen Seiten.  Ein Franziskanermönch und eine Reiseführerin werfen ihm Handzeichen durch die Menge zu. Der Mann mit dem gewichtigen Schlüssel ist in der ganzen Altstadt bekannt. Und immer wieder klingelt sein Telefon. Auf dem Handy-Display hat er ein Foto von Papst Johannes Paul II. hochgeladen. Den hat er bei seinem Jerusalembesuch persönlich vor der Kirche getroffen.

So manche Lebensgeschichte wie die von Nuseibeh erzählt mehr vom komplexen und manchmal grotesken Zusammenleben in der heiligen Stadt, als es die besten Reiseführer Jerusalems je erklären könnten. Der ständige Streit um ihre heiligen Stätten prägt das Leben der Menschen, doch im Alltag siegt häufig ein schlichter Pragmatismus über erhitzten Glaubenseifer. Wer mit Jerusalemern ins Gespräch kommt, lernt schnell, wie vielschichtig diese Stadt ist und wie kompliziert das Zusammenleben in der heiligen Stadt von Juden, Christen und Muslimen. „Zwei Jerusalemer – drei Meinungen“, heißt es überall – und vielleicht ist das noch untertrieben. […]