Auf La Réunion im Indischen Ozean liegt hinter dreitausend Meter hohen Felswänden eines der kuriosesten Weinbaugebiete der Welt
Von wegen Volblutinsulaner. Der kleine Mann mit dem Metzgermesser erinnert eher an den Provinzgallier eines Asterix-Dorfes als an den Ureinwohner einer Tropeninsel. In seinem Weinkeller unter einem kreolischen Häuschen schnippelt Pierre Dijoux an einer Schinkenkeule und reicht dazu den süßesten Wein südlich des Äquators. Mit seiner gedrungenen Gestalt, den eisblauen Augen und seinem bodenständigen Charme würde man den 59jährigen Winzer in die Bretagne stecken oder in die Normandie – nicht aber auf eine Insel im Indischen Ozean, irgendwo zwischen Mauritius und Madagaskar.
Nach dem dritten Gläschen Wein sieht die Welt schon anders aus. Die Insulaner hatten uns gewarnt. Der Wein, den sie da oben in den Bergen trinken, macht verrückt, hatten sie gesagt. Tatsache. Saßen wir nicht eben noch am Strand einer Tropeninsel, schwebten im Wasser, umgeben von neonfarbenen Korallenfischen? Waren da nicht die Kokospalmen und dahinter das dunkle Türkis des Indischen Ozeans? Nun, urplötzlich wie es scheint, finden wir uns im Hochgebirge wieder, gefühlte 3000 Meter über dem Meer. Ringsum gewaltige Felsmassive, deren schroffe Spitzen in den Wolken verschwinden, am Himmel über La Réunion. Mehr als 400 Kurven führen vom Ozean bis hoch zum Krater von Cilaos. Wer die Serpentinenstraße überstanden hat, dem flimmert bei seiner Ankunft dermaßen der Kopf, als habe er die Weinprobe schon hinter sich. […]